Zeitgleich mit meiner Geburt zerfielen die Beatles: Nicht als Gruppe, sondern einzeln nahmen sie die Tonspuren der Lieder ihres gleichnamigen Doppelalbums auf, jenes Werk, das als das weiße Album in die Musikgeschichte einging. Als Musik meinen Leib und meine Seele einzunehmen begann, waren die Beatles längst Vergangenheit; ich hörte das Echo ihrer Kunst. Zu jung, um John Lennons Kompositionen gänzlich zu würdigen, traf mich die Nachricht von seinem gewaltsamen Tod dennoch, da der Tod, wie stets, etwas Unwiederbringliches erschafft.
Es war der 8. Dezember 1980, ich war zwölf Jahre alt.
Italien, 8. Dezember 2008. Ich sitze im Café Castello, innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern der Burg San Leo und notiere mir Gedanken zu einer Kurzgeschichte, die an einem Literaturwettbewerb zum Thema „Du verbringst das Weihnachtsfest mit einer berühmten Persönlichkeit“ teilnehmen soll. Weihnachten, Happy XMas (War Is Over). Meine Gedanken kreisen um John Lennon. Da dessen Präsenz in der Gegenwart aufgrund der oben beschriebenen Umstände imaginär sein muss, überlege ich, die Handlung in den Kopf seines Mörders Mark David Chapman zu legen.
Am Abend schreibe ich den Text nieder, eine Geschichte über Schuld und Rache, Gnade und Vergebung, in der Zelle vermeintlich verhallende Dialoge, die auf Texten von John Lennon und Yoko Ono basieren. Der Titel des Textes wird Season Of Glass lauten, in Anlehnung an Yoko Onos gleichnamiges Foto von John Lennons blutbeschmierter Brille. Dem Ende der Geschichte ist geschuldet, dass das Handlungsjahr weit in der Zukunft liegt: 2022.
Im Moment ihrer Publikation – am 10. Dezember 2008 auf der Literaturplattform BookRix, am 1. September 2010 in der Anthologie Das Konzept – ist die Geschichte Season Of Glass noch komplett fiktiv, Veränderungen unwesentlicher Gegebenheiten sind der Dramaturgie oder dem Thema geschuldet. Tatsächlich wurde Chapman 2012 nach Boston verlegt, seine Anhörungen finden meist im August oder September statt und gänzlich vereinsamt ist er auch nicht. Aber mit jedem weiteren Jahr, das Mark David Chapman im Gefängnis verbrachte, näherte sich die 2022 spielende Handlung der Wirklichkeit.
Am 19. August 2020 spricht Chapman vor dem Bewährungsausschuss die in der Fiktion von Lennon eingeforderte Entschuldigung an Yoko Ono aus, dennoch lehnt der Bewährungsausschuss sein Gnadengesuch ab, zum elften Mal. Damit sitzt John Lennons Mörder, wie von Season Of Glass zwölf Jahre zuvor postuliert, 2022 in seiner Zelle. Das imaginäre Gespräch mit jenem Mann, den er vor vierzig Jahren auf offener Straße ansprach und erschoss, kann sich nun zutragen wie damals im Café Castello ersonnen.
Es ist so lange her. War es in einem Traum? Es schien mir so wirklich. Ich ging die Straße entlang und meinte, die Bäume reden zu hören. Jemand sagte meinen Namen und es begann zu regnen. Zwei Geister verbanden sich zu einem seltsamen Tanz. Ein Dahinfließen von Klängen. Durch einen runden Spiegel hindurch. Ich meinte, die Musik zu fühlen, die meine Seele berührte. Fühlte etwas Warmes. Dann plötzlich war es kalt. (John Lennon – #9 Dream)