Lesetipp zum 100. Jahrestag des Fundes des Grabs des Pharao Tutanchamun
Ägypten 1922. Obwohl das Tal der Könige für archäologisch erschöpft erklärt worden war, drängte der englische Archäologe Howard Carter seinen Finanzier Lord Carnarvon, die Grabungslizenz um ein weiteres, letztes Jahr zu verlängern. Aus gutem Grund: Unterhalb des Grabs des Pharao Ramses VI. hatte er eine Arbeitersiedlung freigelegt; gemäß Carter der Beweis, dass sich in unmittelbarer Nähe ein Königsgrab aus einer älteren Dynastie befinden musste. Es war der 4. November 1922, als der zwölfjährige Arbeiterjunge Hussein Abd el-Rassul durch Zufall eine steinige, rechteckige Fläche freilegte. Die erste von 16 Stufen, die hinab in die Tiefe führten. Die Treppe zum Eingang der Gruft Tutenchamuns.
Als Carter am 26. November 1922 im Beisein von Lord Carnarvon die Vorkammer betrat, bot sich ihm ein atemberaubender Anblick: Das Grab war weitestgehend von Grabräubern verschont geblieben und gefüllt mit kostbaren Beigaben, die die vergangenen dreieinhalb Jahrtausende fast unversehrt überstanden hatten. Die wahre Sensation aber offenbarte sich ihm erst, als er in der dahinterliegenden Grabkammer vor dem Sarkophag stand: Das königliche Grabsiegel war unversehrt.
Carter wusste, dass sein Fund einmalig war in der Geschichte der Archäologie. Nie zuvor war der Sarkophag eines Pharaos ungeöffnet vorgefunden worden; stets war das königliche Siegel bereits zerbrochen.
Der Grund hierfür ist denkbar einfach: Nicht alle Untertanen achteten ihren Herrscher oder dessen Totenruhe. Meist wurde ein Königsgrab schon nach kurzer Zeit geplündert und der Leichnam entwendet, geschändet oder ausgetauscht. Auch königstreue Diener zerstörten Grabsiegel, um die Mumien des Regenten oder seiner Gemahlin umzubetten, noch bevor die Grabräuber sie entehren konnten. Die Grabstätte des Pharao Amenophis II. wurde so zum Sammelgrab. In einer Seitenkammer befanden sich drei mumifizierte Kadaver; zwei von ihnen waren Frauen unterschiedlichen Alters, der Körper der jüngeren grauenhaft zugerichtet.
Was geschah mit der „Jüngeren Dame“?
Als der deutsche Autor Jacob Nomus 2007 den Roman „Das Amarna-Grab“ schrieb, gab es in wissenschaftlichen Foren nur Vermutungen über die Identität der Jüngeren Dame. Spekulationen umrankten ihre Verletzungen, einige dunkle Stellen auf der ledrigen Haut, die Blutergüssen ähnelten, schürten Vermutungen ob eines gewaltsamen Todes. Ein ungelöster Mordfall, der perfekte Ausgangspunkt für einen Roman.
Nomus‘ unter Einbindung von Ägyptologen und Wissenschaftlern akribisch recherchiertes Werk ist ein irrwitziger Spagat zwischen Fakt und Fiktion. Es bedient sich für die Suche nach der Identität der Jüngeren Dame (und der damit verbundenen Lösung des Rätsels um ihren gewaltsamen Tod) fiktiver DNA-Analysen oben beschriebener Leichenfunde. Jedes dieser Ergebnisse wird in eine genetische Beziehung zum einbalsamierten Körper gesetzt, der 1922 in Tutenchamuns Sarkophag bestattet war. Denn allein dessen Identität gilt aufgrund des von Carter unversehrt vorgefundenen Grabsiegels als wissenschaftlich gesichert.
Der am 6. Juli 2009 publizierte Roman ist weder Sachbuch noch komplette Fiktion, die an ein riesiges Puzzle erinnernde Handlung gemeinhin an Wahrscheinlichkeiten ausgerichtet. Trocken listet der Text Imagination neben Fakten auf und zieht seine Schlüsse; eine Vorgehensweise, die dem Leser weitestgehend untersagt, Fakt und Fiktion klar voneinander zu trennen. Es ist pure Dichtung, die dennoch wahr erscheint. Ein beeindruckendes Buchprojekt, dessen Handwerk und Konzeption der deutsche Literaturkritiker Denis Scheck seinen Respekt zollt.
Am 17. Februar 2010 gibt der damalige Generalsekretär der ägyptischen Altertümerverwaltung, Zawi Abass Hawass, den mittels DNA-Analyse erstellten Stammbaum Tutenchamuns der Weltöffentlichkeit bekannt. Seine Vorgehensweise und das Ergebnis stimmen dabei frappierend mit denen überein, die zuvor im „Amarna-Grab“ beschrieben wurden. Ein Umstand, der die Qualität der für „Das Amarna-Grab“ durchgeführten, detaillierten Recherchearbeit andeutet. Selbst der gewaltsame Tod der Jüngeren Frau wird von Hawass bestätigt. Ein dreieinhalb Jahrtausende alter Mordfall, ungelöst in der realen Welt. Jacob Nomus indes nennt den Namen des Mörders.