Relictio decoded: einmal Hölle und zurück

Als Reminiszenz an das Mittelalter finden sich in Relictio einige Begriffe lateinischen und griechischen Ursprungs. Philipps Unendlich-Eck, das „Apeirogon“, zum Beispiel setzt sich aus den griechischen Wörtern „apeiros“ (unendlich) und „gonia“ (Winkel) zusammen, der Name des Planeten Kytheia aus „aletheia“ (Wahrheit) und „nekyia“ (Abstieg in die Totenwelt). In Anlehnung an die „canto“ genannten einhundert Gesänge der Göttlichen Komödie heißen die neun Kapitel des Epos „cantio“, was auf Latein neben „Gesang“ auch „Zauberspruch“ bedeutet. Der Name des Spiels „Relictio“ entstammt ebenfalls dem Lateinischen und kann mit „Zurücklassen“ übersetzt werden, ein Bild, das im Roman öfters auftaucht: Giordano Bruno nimmt hin, dass sein Leib verbrannt wird, vereint seine Seele sich doch auf diese Weise mit dem Quell des Seins, der Anima Mundi; Philipp Smiddlethorp verzichtet aus Wissensdurst auf seine primären körperlichen Bedürfnisse: Ernährung und Schlaf; Daniel Treaghus, seinerseits „Anima Mundi“ der Welt der Argoyl, lässt seine Schöpfung zurück, um sich vom Spiel zu lösen; Ciler Gor lässt seinen Körper auf Furogon zurück, damit seine Seele und sein Bewusstsein sich mit O’it, dem Quell der Macht, vereinen können. Die Vereinigung von „O’it“ und „Ciler“ ergibt, spiegelverkehrt gelesen, „Relictio“.

Figuren und Verweise

Brandon Hippolite, der gnädige (lateinisch: clemens) Literaturlehrer, der am Anfang des Romans mit Hilfe der Hausarbeit das Ende der Schüler einläutet, verdankt seinen Namen Ippolito Aldobrandini, Geburtsname von Papst Clemens VIII, jener Oberhirte aus Rom, der einst Giordano Brunos Urteil unterzeichnete. Passepartout, der junge Sprengmeister aus dem Cantio IV „Vultus Dei“, ist eine Huldigung des piemontesischen Soldaten Pietro Micca, Spitzname Passepartout. Die Schüler Philipp Smiddlethorp und Daniel Treaghus entspringen dem Philosophen Giordano Bruno. Smiddlethorp entdeckt das dreidimensionale Erinnerungsmodell, Treaghus benutzt es für sein Epos. Die beiden Freunde stellen die wissenschaftliche und schriftstellerische Seite des Nolaners dar; sie sind sozusagen Giordano Bruno.

Smiddlethorp, der seinen Nachnamen Loriots Sketch mit Evelyn Hamanns englischer TV-Ansage verdankt, teilt mit Giordano Bruno nicht nur Aussehen und Geburtsnamen (Filippo), sondern stirbt auch am selben Wochentag wie der Ketzer; der 17. Februar 1600 war ein Donnerstag, der Tag des ersten Kapitels ergibt sich durch Rückschluss. Daniel Treaghus‘ Name, im Spielforum dan_t geschrieben, verweist auf Dante Alighieri. In der Göttlichen Komödie begleitet der römische Dichter Vergil die Figur Dante, sozusagen das Avatar des realen Autors, durch neun kreisförmige Ebenen hinab ins eisige Herz der Unterwelt; in Relictio gibt Vergile dem Spieler dan_t die den Höllenkreisen entsprechenden Sünden als Themen für das Epos vor und führt ihn so mit jedem Kapitel/Cantio tiefer in die Hölle.

Hippolites Aufgabenstellung sieht Dante Alighieri und Giordano Bruno als vermeintliche Gegenpole, Ersterer für die katholische Kirche, Zweiterer gegen sie. Bei einem Gespräch mit dem Ordensbruder Alberto Casalboni aus Ravenna, der über Dante Alighieris Leben und Werk doziert und dem ich an dieser Stelle von ganzem Herzen für die dem Projekt Relictio gewidmete Zeit danken möchte, erfahre ich, dass kurz nach Dantes Tod der französische Kardinal Bertrand de Pouget, seinerzeit päpstlicher Legat in Norditalien, den Leichnam des post mortem zum Ketzer erklärten Poeten verbrennen wollte. Das Unterfangen scheiterte an einigen Franziskanermönchen, die Dantes Gebeine rechtzeitig aus dessen Sarg entfernten und in einem Versteck einmauerten. Giordano Bruno und Dante Alighieri – Brüder im Geiste. Wer hätte das gedacht? : )

Höllenkreise und Erinnerungsraum

„Durch mich gelanget zur Stadt der Schmerzen,
durch mich erreichet die ew’ge Qual,
durch mich geh’t hin zum verlor’nen Volke.“
(aus: Die göttliche Komödie, Dante Alighieri)

Die ersten 34 Gesänge von Dante Alighieris Komödie sind den neun Höllenkreisen gewidmet. Je tiefer man in die Unterwelt gelangt, desto größer ist die Schuld der dort zu ewigem Schmerz Verdammten. Es ist wohl der Lebenserfahrung des von den einstigen Gefährten aus Florenz vertriebenen Dante geschuldet, dass in der von ihm beschriebenen Hölle Verrat schwerer wiegt als Mord. Die Zahl Neun erlaubt, jedem Buchstaben des Erinnerungsmodells Giordano Brunos einen Höllenkreis zuzuordnen und so Dantes Inferno im Erinnerungsraum abzubilden. Im Roman geschieht diese Verknüpfung mit Hilfe der Anfangsbuchstaben der Planeten des jeweiligen Gesangs aus Treaghus‘ Epos.

B – Cantio I: Ungetaufte Kinder; Planet: Ba’ak
C – Cantio II: Wollüstige; Planet: Cylos
D – Cantio III: Schlemmer; Planet: Dedaia
E – Cantio IV: Verschwender; Planet: Enmor
F – Cantio V: Träge; Planet: Furogon
G – Cantio VI: Ketzer; Planet: Gàladh
H – Cantio VII: Mörder; Planet: Horoc
I – Cantio VIII: Diebe; Planet: Isiliån
K – Cantio IX: Verräter; Planet: Kytheia

Die Planetennamen zeichnet nicht nur der jeweilige Anfangsbuchstabe aus, sondern auch die Anzahl der Buchstaben, aus denen sie bestehen: Ba’ak (4), Cylos (5), Dedaia (6), Enmor (5), Furogon (7), Gàladh (6), Horoc (5), Isiliån (7), Kytheia (7). Die Summe aller Buchstaben beträgt 52, so wie die Lebensjahre des Giordano Bruno.

Relictio als Kombination seiner Elemente

Das einem syllogistischen Ansatz folgende Erkenntnismodell des Ramon Llull ist eine Konstruktion, die aus übereinander angebrachten und drehbaren, konzentrischen Scheiben unterschiedlichen Durchmessers besteht. Jede dieser Scheiben ist in neun Sektoren mit je einem Begriff unterteilt. Die Begriffe sind so gewählt, dass bei beliebiger Drehung der einzelnen Scheiben die Kombination der übereinander angezeigten Begriffe stets eine wahre Aussage ergibt.

Werden die Buchstaben A bis K der Kapitelüberschriften, die Phasen der Sucht, die Planeten des Epos und die aus den Höllenkreisen abgeleiteten Themenvorgaben des Epos in einem vierscheibigen Modell abgebildet, ergibt sich der Roman Relictio als eine von 6.561 Kombinationen. Jede Kombination erzählt ihre eigene Geschichte.

Aktueller Stand der Wissenschaft ist, dass unser Selbst von unserem Gehirn erzeugt wird und demnach mit dem Tod vergeht. Vielleicht liegt hierin der Glaube begründet an einen ewigen Schöpfergott, eine Anima Mundi, und der Wunsch des Menschen, sein Geist möge nach dem Tod einer ewigen Erinnerung angehören. – Aber das ist eine Geschichte, die im Folgeroman von Relictio erzählt wird.

Hinterlasse einen Kommentar