Am Anfang war das Spiel
Des Öfteren ist es beim Spielen nützlich, nicht den absoluten, sondern den relativen Vorteil zu suchen. Dies kann destruktive Spielzüge attraktiv machen, frei nach dem Motto: Du wirst angegriffen? Wunderbar! Mach dich aus dem Staub und schau, dass der andere beim Hinterherlaufen mehr verliert als du. Wenn alles klappt, wird er sauer, greift dich nochmal an und verliert noch mehr. : )
November 2005. Ich werde eingeladen, am Online-Spiel Ogame teilzunehmen. Planeten, Bergwerke, Rohstoffe, Abwehranlagen, Raumschiffe, eine Vielzahl ungleich stärkerer Gegner. Die effizienteste Strategie ist schnell klar: Angreifen wie ein Stier und die eigenen Kühe nicht von anderen melken lassen. Das Problem: Es gibt keine Pausen, man muss eigentlich durchgehend spielen, Tag und Nacht.
Es dauert keine 24 Stunden und ein paar destruktive Spielzüge meinerseits, angereichert mit einer üppigen Dosis Sarkasmus, werden zum meistgelesenen Thread im Spielforum. Die im Roman „Relictio“ beschriebenen Erlebnisse des Schülers Daniel Treaghus – der Krieg gegen die größte Allianz des Spiels, die Reaktionen im Forum, die Spielzüge, das Epos über die Suche nach dem steinernen Antlitz – beruhen auf wahren Begebenheiten.
Zwei Wochen lang – derselbe Zeitraum wie im Roman – bleibt der Thread mit den seltsamen Kriegsberichten wie am oberen Browserrand angetackert auf Platz #1 des Forums. Hunderte Spieler lesen, schreiben, amüsieren und zoffen sich, während ich mich leicht übermüdet darauf konzentriere, im Spiel keine Niederlagen einzufahren und meine Siege in eine halbwegs zusammenhängende, phantastische Geschichte über die Suche nach einem göttlichen Stein zu kleiden. Mit Veröffentlichung des letzten Kapitels verschenke ich meinen Account. Der Thread verschwindet nach und nach in den Tiefen der Festplatte des Forum-Servers. Es bleibt allein die Erinnerung.
Handlung im Erinnerungsraum
2011 beginne ich mit der Recherche zu „Relictio“, ein Werk über Schöpfer und Schöpfung, thematisch ein würdiger Nachfolger des Romans „Das Amarna-Grab“ und dem darin aufgegriffenen Thema Religion. Während das Amarna-Grab zur Zeit Echnatons und Jesu Christi spielt, treffen in Relictio frühe Renaissance und spätes Mittelalter in Form der Gedanken und Werke des Philosophen Giordano Bruno und des Poeten Dante Alighieri aufeinander.
Der Zahl Neun kommt bei Aufbau und Inhalt des Romans eine besondere Bedeutung zu. Neun sind die Höllenkreise in Dantes Göttlicher Komödie, neun die Kreissektoren mit den Grundtugenden in Ramon Llulls Erkenntnismodell aus der „Ars Magna“, neun die Buchstaben in Giordano Brunos Erinnerungsmodell aus der „Ars Memoriae“. Ich beschließe, die Handlung des Epos über das steinerne Antlitz im Roman zu verwenden und es in neun Kapitel zu gliedern, anhand derer der nichtsahnende Treaghus Kreis um Kreis tiefer in Dantes zunehmend frostigere Hölle hinabsteigt.
Treaghus‘ Niedergang, wie auch der seines Freundes Philipp Smiddlethorp, ist nicht spiritueller, sondern körperlicher Natur: Mangel an Schlaf kann Wahnvorstellungen hervorrufen. Wie Giordano Bruno in seinem Werk „De Vinculis in Genere“ schreibt, erschafft der Mensch sich die eigene Hölle. – Immerwährende Qualen als eine Art unbeabsichtigter Schöpfungsakt. : )
Die Zeilen des Nolaners über die Hölle schickt mir Dr. Manuel Mertens vom Zentrum für Wissenschaftsgeschichte der Universität Gent bei einem Schriftwechsel, für den ich mich an dieser Stelle noch einmal herzlich bedanke. Die Übersetzung des Auszugs aus „De Vinculis in Genere“ findet sich gegen Ende des Romans im Abschnitt „Das Pergament“.
In Einklang mit Brunos Erinnerungsmodell ist der Roman Relictio in neun Kapitel unterteilt, denen jeweils ein Buchstabe von B bis K zugeordnet ist. Im Rückschluss bedeutet die Verwendung der Buchstaben, dass die gesamte Handlung des Romans in einem Erinnerungsraum stattfindet und selbst eine Erinnerung ist.
Um wessen Erinnerungen handelt es sich? – Neben den Buchstaben B bis K bedient sich der Aufbau des Romans des Buchstaben A. Diesen Buchstaben setzt Ramon Llull in den Mittelpunkt seines Erkenntnismodells als Symbol für „den Schöpfer“. Die Verwendung des Buchstaben A zur Kennzeichnung des Epilogs Relictios ist ein Hinweis, dass der dortige Protagonist, jener namenlose Schüler des Giordano Bruno, der in Rom der Hinrichtung seines Meisters beiwohnt, der Ursprung der Geschichte von Daniel Treaghus und Philipp Smiddlethorp ist. Für den Leser von Relictio ist diese Information zugegebenermaßen wenig gewichtig, relevant wird sie hingegen als Schnittstelle zu einem anderen Roman.
Sucht als Handlungsmotivation
Giordano Brunos Ars Memoriae lehrt, Erinnerungen innerhalb von immaginären Szenen zu kodifizieren. Informationen können so in fiktiven Gesprächen, Bildern und Handlungsabläufen im Gedächtnis gespeichert und leicht wieder abgerufen werden. Es verwundert kaum, dass der Nolaner, Meister in der Kunst der Erinnerung, einige seiner Bücher als Ansammlung von Szenen verfasst hat, in denen Figuren miteinander debattieren.
Auch innerhalb des Erinnerungsmodells Relictio haben die Figuren die Funktion, Informationen zu kodifizieren. Die gegenüber eigenen körperlichen Bedürfnissen unbarmherzige, zielgerichtete Vorgehensweise der beiden Freunde Daniel Treaghus und Philipp Smiddlethorp – der eine bei der Suche nach Wahrheit, der andere beim Spiel Relictio – nimmt hierbei Züge einer Sucht an: Beide verlieren die Kontrolle über eine Situation, die sie komplett einnimmt und zu deren Fortbestehen sie trotz selbstzerstörerischer Auswirkungen aktiv beitragen.
Die Kapitelüberschriften in deutscher und lateinischer Sprache sind von mir festgelegten Phasen der Sucht gewidmet, die gleichsam den Pfad der Erkenntnis von Giordano Brunos namenlosen Schüler aus dem Epilog markieren:
B – Suche – Quaestio
C – Kameradschaft – Commilitium
D – Schöpfung – Creatio
E – Ruhm – Gloria
F – Abhängigkeit – Obsequium
G – Leugnung – Negatio
H – Leid – Dolor
I – Errettung – Salvatio
K – Verwandlung – Metamorphosis